Ler(n)ende Euregio trägt auf allen ebenen zu Herausforderungen bei

“Ich denke nicht, dass ich alles mitmachen werde,“ sagt Andreo kurz nachdem er mit dem Bus bei der Jugendherberge Wolfsberg in Nütterden angekommen ist. Er macht eine Ausbildung bei dem ROC Rijn IJssel und nimmt nun gemeinsam mit neunzehn anderen Schülern an dem Tandemprojekt der Ler(n)enden Euregio teil. Seit 2014 organisiert die Ler(n)ende Euregio mit deutschen und niederländischen Berufskollegs ein „Empowermentprogramm“ in der Euregio, welches die teilnehmenden Schüler im Bereich Kompetenzentwicklung und Berufsorientierung unterstützt. Ermöglicht wird dieses Projekt mit Interreg V Mitteln. Wouter Groothedder aus dem Bereich Internationalisierung beim ROC Rijn IJssel: „Dieses Programm zeigt, dass internationale Austausche ebenfalls auf Niveau 1 möglich sind.“

Eine geistige Anstrengung

Zwischen Kranenburg und Kleve sind die Landstraßen von knallgelben Rapsfeldern umgeben. Eine dieser Straßen führt auf einen Hügel hinauf. Dort oben, am Rande des Reichswaldes, liegt eine Jugendherberge, wo man auf Grund der Abgeschiedenheit allein den Wind und die Vögel hören kann. Für viele Schüler ist dies die erste Erfahrung im Nachbarland. Vor ein paar Wochen hat sich die Gruppe zum ersten Mal in Arnheim getroffen, vergangene Woche dann ein zweites Mal in Mönchengladbach. Jürgen Baer, Lehrer beim BK Rheydt-Mülfort für Technik: „Es ist sehr wichtig, dass die Schüler sich zuerst gegenseitig besuchen, bevor sie hier zwei Tage im Wolfsberg gemeinsam verbringen. Dadurch ist die Chance größer, dass sie zu einer Gruppe werden.“ Die Ler(n)ende Euregio trägt mit verschiedensten Austauschprogrammen dazu bei, dass die Grenzen bzw. die Barrieren zwischen niederländischen und deutschen Jugendlichen verschwinden. Lehrer Ellen Dolman: „Sie haben häufig ein bestimmtes Bild von Deutschland und schauen selten weiter als bis zur Grenze. Das wollen wir durchbrechen. Wir möchten ihnen ebenfalls beibringen, etwas Neues zu versuchen. Hier sind sie wirklich weg von ihrer vertrauten Umgebung.“

Viel Talent
Bas Boerboom, Lehrer beim ROC Rijn-Issel, findet es sehr wichtig, dass die Schüler eine aktive Rolle einnehmen und aus ihrem Trott herauskommen. Dafür sorgt Choreograf Simon Turnwald. Zwei Tage lang arbeitet die Gruppe gemeinsam an einer Tanzchoreografie und einem Videoclip. Simon: „Zu Hause liegen einige oft den ganzen Tag im Bett, rauchen und schauen Netflix. Hier sind sie in einer komplett anderen Umgebung und lernen was Neues. Diese Schüler sind anfangs häufig sehr zurückhaltend. Aber das Programm wird viel Energie kosten, wodurch es eine unvergessliche Erfahrung wird.“ Lisa, Schülerin vom ROC Rijn-Issel: „Ich bin mir nicht sicher, was mich hier erwartet. Ich bin ehrlich gesagt noch etwas stutzig.“ Viel Zeit um lange nachzudenken ist allerdings ohnehin nicht. Nachdem die Schüler auf die Zimmer aufgeteilt wurden und eine kurze Einführung zu dem zweitägigen Programm erhalten haben, geht es sofort zu dem Tanzsaal in einer alten Kapelle. Dort werden sie von Simon in dem stimmungsvoll beleuchteten Saal mit Hip-Hop-Musik begrüßt. Die Fenster sind von innen verdunkelt. „Das mache ich, damit sie sich weniger beobachtet fühlen“, sagt der Tanzlehrer. Das Warm-up ist sehr hart und zu Beginn versuchen sich einige still und heimlich davonzuschleichen. Aber Simon stachelt sie weiter an und möchte mehr aus ihnen rausholen. Am Ende lassen sich alle mit hochroten Kopf schnaubend nieder, aber man merkt, wie sie diese gemeinsame Erfahrung bereits als eine Gruppe weiter zusammenschweißt. Der Tanzlehrer strahlt eine Motivation aus, die ansteckend wirkt. „Sie haben viel Talent, aber sie müssen lernen es positiv einzusetzen“, sagt er. Auf Grund seiner eigenen Vergangenheit kann Simon die Jugendlichen und ihre Probleme im Alltag gut verstehen und findet schnell einen Zugang zu ihnen. „Sie arbeiten in Grüppchen an Tanzszenen und machen damit gemeinsam ein Videoclip. Heute Abend werde ich mit Ihnen gemeinsam ein Fotoportrait erarbeiten und im Anschluss machen wir ein Lagerfeuer. Dadurch erhalte ich nochmal einen anderen, persönlicheren Zugang zu den Schülern.“ Einige kommen klagend aus der Kapelle nach dem Warmup heraus, aber die meisten lachen. „Ich glaube, dass ich mich ganz gut geschlagen habe“, sagt ein Schüler zu seiner Freundin.

Berufsorientierung
An beiden Vormittagen steht außerdem noch Berufsorientierung auf dem Tagesplan. Im Empfangsraum wurden parallel zum Warm-up bereits vier verschiedene Stationen aufgebaut, wodurch den Schülern durch typische Aufgaben ein Einblick in die jeweiligen Tätigkeiten ermöglicht wird. Die Aufgaben sind aus unterschiedlichen Berufsfeldern: Von Servietten falten bis hin zum Verdrahten einer Fahrradlampe. Alle Aufgaben werden in deutsch-niederländischen zweier Teams – sogenannte Buddypaare – gemeinsam ausgeführt. Roberto sitzt gerade mit seinem Buddy beim Servietten falten: „Ich spreche ein bisschen deutsch und gut englisch, daher können wir uns prima verständigen“, sagt er. „Diese Aufgabe hier spricht mich nicht sehr an. Ich will eigentlich Zimmermann werden. Ich träume davon mir irgendwann in Miami Beach ein eigenes Haus zu bauen.“ Ein anderes Buddypaar arbeitet vertieft an einer Excelaufgabe am Laptop. Als am anderen Ende des langen Tisches eine Fahrradlampe beim Drehen des Rades aufleuchtet, ertönt Applaus.

Tränen
Abends sitzen alle am Barbecue und erzählen sich Geschichten aus ihrem Leben. Jeder ist dabei, dennoch freuen sich einige schon auf das Bett. Am darauffolgenden Morgen werden viele von einem Muskelkater begrüßt und die teilweise kurze Nacht in einem fremden Bett fordert ebenfalls ihren Tribut. Das Programm am zweiten Tag hat etwas mehr Freiraum, welches einige für einen Spaziergang oder eine Runde Fußball nutzen. Niels Pohlmann, Beauftragter für Internationalisierung am Berufskolleg Rheydt-Mülfort für Technik blickt zufrieden auf die vergangenen Tage zurück: „Jeder hat das komplette Programm mitgemacht und durchgezogen. Das ist wirklich das Tolle an diesem Konzept.“ Nach dem Mittagessen ist es Zeit für das Highlight: Die Vorstellung des gedrehten Videoclips. Zunächst wird jedoch eine Fotomontage mit allen Portraitaufnahmen präsentiert, die in den zwei Tagen in der Jugendherberge entstanden ist. Als dann das Tanzvideo beginnt, erscheint auf jedem Gesicht ein breites Lächeln. Auch bei Lisa, die sich anfangs nicht wohl gefühlt hat oder Romano, welcher die zwei Tage von schwerem Liebeskummer geplagt war. Am Ende des Videos bricht Applaus aus. Alle Beteiligten sind sichtlich begeistert und einige Lehrer sogar fast zu Tränen gerührt. Der Schüler Andreo nimmt Abschied und sagt mit stolzem Blick: „Ich habe alles mitgemacht und durchgezogen.“

Text: Anoushka van Bemmel